Das Ihagee Kamerawerk in Dresden
Einige ganz subjektiven Erinnerungen
von
Klaus-Eckard Riess
Das Ihagee Kamerawerk in Dresden wurde 1912 von dem Holländer Johan Steenbergen gegründet. Die Firma brachte im Laufe der Jahre viele interessanten Kamerakonstruktionen und vor allem auch Spiegelreflexkameras auf den Markt. 1936 gelang der Ihagee der grosse Wurf mit der Kine Exakta, der ersten Spiegelreflex-Kleinbildkamera der Welt. Während des 2.Weltkrieges pressten die Nationalsozialisten Johan Steenbergen aus seinem Betrieb, und 1943 emigrierte er nach Amerika. Am 13.Februar 1945 erlitt der Betrieb totale Zerstörung, doch begann schon im Mai 1945 ein Neuanfang in einem nur teilweise ausgebrannten Gebäude auf der Blasewitzer Strasse in Dresden. In der sowjetischen Besatzungszone und seit 1949 in der DDR nahm das Ihagee Kamerawerk als Privatbetrieb eine Ausnahmestellung ein. In den sechziger Jahren wurde die Firma dann zunehmend in den Bannkreis des VEB Pentacon Dresden gezogen, um ab1970 völlig ihre Selbständigkeit zu verlieren.
Ich selbst hörte den Namen Ihagee zum ersten Mal im Jahre 1950. Zu dem Zeitpunkt war ich 11 Jahre alt und wohnte mit meiner Mutter, meinen beiden Brüdern und meinem Grossvater in unserem Haus am Stadtrand von Dresden. Mein Vater, der 20 Jahre lang in der Zeiss Ikon AG angestellt gewesen war, war in den russischen Gulag-Lagern verschollen und kehrte erst 1956 zurück. Meine Mutter musste also alleine für unseren Lebensunterhalt aufkommen.
1950 wurde es für sie notwending eine neue Arbeit zu finden. über die Empfehlung eines Bekannten geriet sie an die Ihagee, wo Max Rockstroh damals kaufmännischer Direktor war. Dieser hatte mit meinem Vater die Dreikönigschule in Dresden besucht, und wie mein Vater gehörte er lebenslang dem Freundeskreis dieses Gymnasiums an. Die Ihagee stellte meine Mutter in der Galvanik ein, d.h. in der Abteilung, wo Kamerateile vernickelt und verchrohmt wurden. Dies war ein unangenehmer und bestimmt auch giftiger Arbeitsplatz, aber er brachte etwas mehr Geld ein, als eine Arbeit im Büro. Zeitweise arbeitete meine Mutter auch in der sogenannten Mechanik, wo Teile gebohrt und gefräst wurden. Immer sprach sie davon, dass die Kameramontage die sauberste und begehrteste Arbeit sei.
Alle Arbeit war Akkordarbeit, es wurde also Lohn nach Leistung bezahlt. Zeitweise war die Firma Tag und Nacht in Betrieb, wobei in drei Schichten gearbeitet wurde: Frühschicht von
6 Uhr morgens bis 14 Uhr, Spätschicht von 14 Uhr bis 22 Uhr und Nachtschicht von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens. Ich entsinne mich, dass meine Mutter gerade Nachtschicht hatte, als nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 ein Ausnahmezustand verhängt worden war und nachts niemand auf die Strasse durfte. Da fühlte sie sich wirklich in der Ihagee eingeschlossen. Die Ihagee lag auf der Blasewitzer Strasse in Dresden-Johannstadt in einem Gebäude, welches noch teilweise zerstört war und erst nach und nach voll ausgebaut wurde. Noch sehe ich mich am Fabrikstor stehen und auf meine Mutter warten.
Auch das ausgebrannte Nachbargebäude wurde für die Ihagee ausgebaut. Dort nahm ich im Dezember 1952 zusammen mit meinen Brüdern an einer Weihnachtsfeier teil, die für die Kinder der Belegschaft veranstaltet wurde. Jedes Kind bekam ein Weihnachtsgeschenk von der Ihagee. Und damit es gerade das richtige erhielt, hatten die Eltern Geld zugeteilt bekommen, um die Geschenke selbst einzukaufen.
Fuhr man mit der Strassenbahn von Tolkewitz kommend stadteinwärts, dann kam man auf der Schandauer Strasse in Striesen zuerst am ehemaligen Ica-Werk der Zeiss Ikon vorbei und kurz danach am Ernemann-Werk mit dem berühmten Turm. überall standen ausgebrannte Häuser, aber vom Pohlandplatz an, wenige hundert Meter hinter der Zeiss Ikon, beherrschte nur noch eine einzige Wüste von Ruinen das Bild. Dort, an der Ecke der Schandauer Strasse und der Bergmannstrasse, hatte die alte Ihagee gelegen. Noch bilde ich mir ein, an einer hohen Wand der Ruine den Namenszug Ihagee und ein Bild der Kine Exakta gesehen zu haben.
1952 feierte die Ihagee ihr 40-jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass wurden zwei vergoldete Exakta Varex Kameras hergestellt und den Direktoren Willy Teubner und Max Rockstroh zur Jubiläumsfeier überreicht.
Inzwischen habe ich von Herrn Herbert Blumtritt erfahren (Verfasser des Buches “Geschichte der Dresdner Fotoindustrie”), dass insgesamt 6 bis 8 vergoldete Exakta-Kameras hergestellt worden sind. Eine erhielt der Kosmonaut Juri Gagarin, andere der Schah von Persien und Kaiser Heile Selassie von Äthiopien.
Meine auf gute Sitten schwörende Mutter macht mich schmunzelnd, weil sie, im Gegensatz zu dem hochgebildeten und sprachbegabten Max Rockstroh, den technischen Direktor Willy Teubner ein klein wenig plebeiisch fand, da er die Hände nicht aus den Hosentaschen nahm, wenn er mit den Leuten sprach. Ende 1953 fiel Max Rockstroh bei den ostdeutschen Machthabern in Ungnade und flüchtete nach West-Berlin um einer Verhaftung zu entgehen. Im folgenden Jahr war die Misere mit der neuen Exakta 6×6 das Tagesgespräch in der Firma. Als der Mit- oder Hauptverantwortliche zog Willy Teubner die Konsequenz. Er quittierte seinen Dienst in der Ihagee und landete, wie ich erfuhr, bei der Firma Regula King in Bad Liebenzell. In der Ihagee wurde Walter Kretzschmar als neuer Direktor eingesetzt. Die Belegschaft der Ihagee war stolz auf die Sonderstellung, die ihre Firma dank des holländischen Kapitales inmitten der verstaatlichten Industrie im kommunistischen Ostdeutschland einnahm. Es war die allgemeine Auffassung, dass Walter Kretzschmar
als Mitglied der kommunistischen Partei die Leute der Ihagee in parteigerechter Richtung beeinflussen sollte. Doch das Gegenteil schien zu geschehen. Der Geist der Ihagee färbte auf den neuen Direktor ab.
Im Frühjahr 1955 wurde meine Mutter und vor allem mein Bruder dem Direktor Kretzschmar zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Die Sache war die, dass die kommunistischen Schulbehörden meinem äusserst begabtem Bruder den Zugang zum Gymnasium verweigerten, weil sie unsere Familie nicht zur Arbeiterklasse zählten. Meine Mutter berichtete Herrn Kretzschmar von dem Problem, er erkannte die Ungerechtigkeit und machte bei der Schulbehörde seinen Einfluss als Direktor der weltbekannten Ihagee geltend.
Später im gleichen Jahr verliess meine Mutter die Ihagee auf Grund einer langen und schweren Erkrankung. Sie erhielt aber die persönliche Verbindung zu der Familie Rockstroh in Berlin aufrecht und vor allem zu Fräulein Pötsch, die die Lohnbuchhaltung in der Ihagee leitete.
Inzwischen war ich selbst als Lehrling in die Zeiss Ikon eingetreten. Fast naturgegeben musste Photographie und Phototechnik zum Hobby werden. An der Spitze aller bewunderter Kameras strahlte die Exakta Varex, die erste und führende Kleinbild-Spiegelreflexkamera der Welt. Zu kaufen sah man
sie damals allerdings nicht. Sie wurde hauptsächlich exportiert, und gewöhnliche Sterbliche begnügten sich mit der Exa.
In den folgenden beiden Jahrzehnten begann der Stern der Exakta zu erblassen. Dafür eroberte aber das von der Exakta eingeführte Kamerakonzept die Photowelt. Schon 1959 kam die Nikon F auf den Markt und trat, gefolgt von anderen japanischen Spiegelreflexkameras, ihren Siegeszug an. Die deutschen Kamerahersteller mussten sich nach und nach von den japanischen überflügelt sehen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.