Dresden in Kopenhagen
Auf Dresdner Spuren in Kopenhagen
mit
Klaus-Eckard Riess
Im Sommer 1841, rückkehrend von einer grossen Orientreise, notierte der dänische Märchendichter Hans Christian Andersen die auch heute aktuell anmutenden Worte in sein Tagebuch:
“Vor uns liegt Dresden in schwerer Luft, Norddeutschlands Florenz! Wo die Madonna, die jungfräuliche Mutter, mit dem Himmelskind auf schwebender Wolke steht; wo der Protestant sich vor dem Göttlichen in der Kunst verneigt! Dresden ist ein Freund, den man ungern verlässt. Er hat etwas, wie soll ich es sagen, halb bürgerliches, halb romantisches. Sein Garten ist die Gebirgsnatur mit dem Königstein und der Bastei, sein Studierzimmer die Galerie mit den herrlichen Gemälden; das neue Theater ist ein Bilderbuch, bunt und prächtig, mit Gold und Schnörkeln. Ja, hier ist man selbst mitten im Bilderbuche, überwältigt von der vielfältigen Pracht!”
Andersen, der mit Ludwig Tieck und Carl Gustav Carus in Dresden eine herzliche Freundschaft unterhielt, und der auf seinen Reisen immer so gerne in “seinem lieben Maxen” abstieg, war nicht der einzige, der zwischen dem Elbflorenz und der dänischen Metropole am Sund kulturelle Fäden zog. Jahrhunderte hindurch knüpften die Fürstenhäuser Dänemarks und Sachsens familiäre Bande. Anlässlich einer solchen königlichen Hochzeit im Jahre 1634, nämlich der des dänischen Kronprinzen mit der sächsischen Prinzessin Magdalene Sybilla, holte der illustre dänische König Christian IV. Heinrich Schütz vom Dresdner Hof nach Kopenhagen. Und als Christians Urenkel sich 1709 in Dresden trafen, d.h. als der dänische König Frederik IV. seinen Vetter und Waffenbruder August den Starken besuchte, musste M.D.Pöppelmann für die geplanten Festlichkeiten jenes hölzerne Amphitheater errichten, welches als Vorläufer des Zwingers anzusehen ist. Suchte später dann der berühmte dänische Porträtmaler Jens Juel bei Anton Graff in Dresden Unterricht, so bildete die Kopenhagener Akademie Künstler wie Phillip Otto Runge, Caspar David Friedrich und den in Dresden wirkenden Norweger Johann Clausen Dahl aus. Für jeden kunstbegeisterten Dänen, ob Monarch, Künstler oder Tourist, war Dresden eine der wichtigsten Stationen auf der Bildungsreise nach dem Süden. Nachdem Krieg und eiserner Vorhang fast ein halbes Jahrhundert lang jeglichen normalen, wechelseitigen Verkehr unterbunden hatten, steht nun den Skandinaviern wieder der Weg zu den Kunstschätzen und Bauten Dresdens offen; und vor allem zum Japanischen Palais,welches auf die Architektur in Kopenhagen nachhaltigen Einfluss ausgeübt hat. Offen steht aber auch dem Dresdner das Tor nach Kopenhagen, einer vom Kriege unbehelligten Stadt, wo er einen Teil seines alten Dresden wiederfinden kann, wenn er nur die Augen offenhält und zwecks Vergleich Bilder vom Japanischen Palais in die Reisetasche gesteckt hat. Wie aber kam es zu der baugeschichtlichen Verschwägerung zwischen dem Dresden August des Starken und Kopenhagen um die Mitte des 18.Jahrhunderts?
Im Jahre 1723 begab der junge dänische Gärtnergeselle Nikolaj Eigtved sich auf die Walze nach Deutschland. Nachdem er in Merseburg und in Berlin-Charlottenburg gedient hatte, zog er nach Warschau, wo er die Bekanntschaft Carl Friedrich Pöppelmanns machte (Sohn des Zwingerarchitekten) und als dessen Baukondukteur nach Dresden folgte. Hier trat er dem Ingenieurkorps unter Jean de Bodt bei, er sah die Frauenkirche emporwachsen, er erlebte die Anfänge der Königstrasse, er liess sich von Knöffels eben vollendeter Ritterakademie und dem Kurländer Palais beeindrucken, und vielleicht arbeitete er an der Fertigstellung des Japanischen Palais mit, dessen Säulenvorhalle auf der Platzseite Eigtveds Chef Jean de Bodt zugeschrieben wird. Jedenfalls fertigte Eigtved Kopiezeichnungen vom Japanischen Palais, vom Grundriss der Frauenkirche und von August des Starken Lustlager bei Zeithain an, die sich heute noch in den königlichen Bibliotheken in Kopenhagen befinden. Inzwischen kam Pöppelmanns überströmender, spielerischer Barock aus der Mode, noch ehe die Handwerker am Zwingerbau das Werkzeug aus der Hand gelegt hatten. Er musste der Forderung nach einem klaren,
klassischen Stil weichen, zu dessen Hauptmerkmalen die von dem Franzosen Zacharias Longuelune eingefuhrten, senkrechten Wandstreifen zählen, die sogenannten Lisenen. Longuelunes Schüler Knöffel und Schwarze entwickelten diesen Stil weiter zum typisch Dresdner Rokoko. Nikolaj Eigtved übertrug diese graziöse, aber distinqierte und schon den Klassizismus vorausahnende Spätform des Barock nach Kopenhagen. Er signierte das französisch-sächsische Rokoko mit seiner eigenen Note, indem er die oberen Winkel der Lisenen mit kleinen Ecken ausstattete. Alle seine späteren Bauten kennzeichnete Eigtved mit diesen sogenannten Ohrenlisenen, die noch lange Zeit ein in der Kopenhagener Architektur auftretendes Detail darstellen sollten. Dem Eingewihten scheinen sie, wo immer er ihnen begegnet, wie ein fernes Leuchten aus dem alten Dresden. Doch wünscht sich der heutige Besucher aus Dresden wohl deutlichere Zeugen. Dann werfe er mal einen Blick auf die Fassade im Ehrenhof des “Palais des Prinzen” auf der dem Frederiksholms Kanal zugekehrten Seite des dänischen Nationalmuseums! Der Mittelrisalit dieses von Eigtved für den Kronprinzen erbauten Palais trägt disziplinierte Lisenenarchitektur Knöffelscher Prägung, wie sie in Dresden das Palais Wackerbarth (Ritterakademie) trug und wie sie am Kurländer Palais wieder erstehen wird.
Oder er spaziere zur Bredgade und betrachte das Odd Fellow Palais! Wer denkt da nicht an das Cosel Palais in Dresden? Wie das Cosel Palais hat das Odd Fellow Palais elf Achsen, drei davon in dem hervorgehobenen Mittelrisalit, es hat einen gequaderten Sockel, hohe Bogenfenster in der Beletage und Vasen auf der Dachbalustrade. Vor allem aber zeichnet sich die Fassade durch die gleiche vornehme Lisenen architektur aus.
Nebenbei bemerkt wohnte hier der in Dresden geborene Graf Heinrich Ernst Schimmelmann, dänischer Staats-und Finanzminister, der sich durch uneigennützige Unterstützung Friedrich Schillers einen Platz in der deutschen Literaturgeschichte gesichert hat. Wenige Schritte weiter, symetrisch dem Kuppelbau der Frederikskirche gegenüber gelegen, flankieren Dehns und Bernstorffs Palais den Eingang zum Schloss Amalienborg. Beide Palais, von Eigtveds Schüler J.G.Rosenberg errichtet, erfreuen sich derselben charakteristischen Fünfteilung mittels pavillonartiger Mittel- und Seitentrakte, wie August des Starken Porzellanschloss an der Elbe.
Nikolaj Eigtveds Meisterstück aber ist und bleibt Amalienborg, heute die Residenz der dänischen Königin.
Wenn sich der Dresdner vom Schauspiel der bärenfellbemützten Leibgarde und von den grandiosen Ausblicken zur Frederikskirche und zum Hafen losreissen kann, sollte er nun sein Bild vom Japanischen Palais aus der Tasche ziehen.
Die Mittelrisalite der vier prächtigen, den oktogonalen Platz einrahmenden Palaisbauten weisen eine verblüffende ähnlichkeit mit dem der Elbfront des Japanischen Palais auf. Wir sehen die gleiche Etageneinteilung vor uns: das Erdgeschoss als putzgequaderter Sockel, darüber die hohen Fenster der Beletage und obendrauf ein niedriges Mezzanin. Sechs Freisäulen tragen auf ionischen Kapitellen den Architrav mit Balustrade und grosser Kartusche. Zurückhaltender akzentuiert sind die Seitenrisalite. Spiegeldekoration und Lisenengliederung, letztere mit Eigtveds typischen “Ohren” versehen, zeugen deutlich von Longuelunes und Knöffels Schule. Die äusseren Dokorationen der Palais, d.h. die Vasen, Figuren, Trophäenschmuck und Kartusche schuf der sächsische Bildhauer JohannChristoph Petzold, der seine Ausbildung bei Balthasar Permoser in Dresden erhielt.
Das Fassadenschema von Amalienborg tritt uns in abgeschwächter und verbürgerlichter Form nochmal entgegen in Lindencrones Palais, welches Eigtved an der Ecke von Bredgade und Sankt Annaeplatz errichtete. Ein dänischer Kunsthistoriker urteilt über diesen Bau:
“Mehr als irgendein anderes Gebäude der Stadt erinnert dieses an die sächsische Architektur, und da das alte Dresden nicht länger existiert, ist dieses Exterieur eine Quelle erster Hand über den Charakter im augusteischen Baumilieu, worin der junge Eigtved gelebt und studiert hatte. Es ist wie ein Monument, vom Baumeister gesetzt, über eine Kultur, deren formidable Qualitäten ein beständiger Teil seiner Persönlichkeit geworden waren.”
Wer noch nicht müdegelaufen ist, kann auf der Bredgade die wenigen hundert Schritte zum Kunstindustriemuseum gehen und an den schlichten, harmonischen Mittelbauten der 1754 von Eigtved als Krankenhaus konzipierten Anlage nochmal distinquierte Facadenkunst aus Knöffels Schule bewundern.
Parallel zur Bredgade kreuzt die Amaliegade den Schlossplatz von Amalienborg. Hier zeugen, teils in abgeänderter Form, manche Bürgerhäuser noch von Eigtveds Bestreben, ein einheitliches Strassenbild zu schaffen, wobei ihm unzweifelhaft die von Pöppelmann in Dresden angelegte Königstrasse als Vorbild diente. Die Hausnummern 15 und 17 sind Variationen über das Thema, welches der ganzen Strasse galt.
Erwähnung gebührt auch der sogenannten Marmorbrücke, die über den schmalen Frederiksholms Kanal zur Reitbahn des Regierungsschlosses Christiansborg führt. Brücke und Torpavillons wurden 1740 von Nikolaj Eigtved errichtet. Zu Eigtveds Inspirationsquellen und Vorbildern zählen auch Longuelunes Pläne für den Neustädter Brückenkopf in Dresden, von denen Eigtved Kopiezeichnungen anfertigte, und was die beiden Pavillons betrifft, vielleicht auch das Osttor des Grossen Gartens an der Karcher Allee. Die Figurengruppen auf den Pavillons meiselte wieder der schon mehrmals erwähnte Johann Christoph Petzold. Den erforderlichen Sandstein schiffte man von den Steinbrüchen bei Pirna die Elbe flussab nach Altona, welches damals zur dänischen Krone
gehörte. Auch bei der neulich stattgefundenen Restaurierung der Marmorbrücke gab sächsischer Sandstein wieder das Material ab.
Wie war die Persönlichkeit jenes Mannes, durch den die Glanzzeit der Dresdner Baukunst ihren Niederschlag in Kopenhagen fand? Wie sah er aus, der junge dänische Gärtnergeselle, der Hauptmann im sächsischen Ingenieurkorps, der königliche Hofbaumeister? Niemand weiss es zu sagen. Kein Bildnis ist auf uns gekommen. Eigtveds Grabmal an der deutschen St.Petri Kirche wurde schon 1807 zerstört, als die Engländer Kopenhagen in Brand schossen. Ein Teil der Innenstadt und der Dom gingen damals in lammen auf, Nikolaj Eigtveds Werk aber blieb erhalten. So findet der Dresdner in der dänischen Hauptstadt einen Abglanz des einst so strahlenden Elbflorenz, während die Kopenhagener, die in zunehmender Zahl wieder den Weg nach Dresden finden, sich freuen können, dass das Japanische Palais noch immer steht als ein Vorbild für jenen Baustil, der Kopenhagen um die Mitte des 18.Jahrhunderts seinen Stempel aufdrückte.